Ich bin 45 Jahre alt, die Kinder sind „aus dem Gröbsten raus“, das Haus gebaut, der Hof in Schuss. Ich schaue in den Spiegel und stelle erschrocken fest: Das, was ich da sehe, stimmt nicht mehr mit dem Bild der knackigen 23-Jährigen überein, das ich selbst immer noch von mir habe. Das, was ich fühle, stimmt nicht mehr mit dem überein, was die 23-Jährige gefühlt hat: den kraftvollen Glauben, dass da eine Welt voller Möglichkeiten auf sie wartet. Ein unangenehmes Gefühl von Verbitterung und Sentimentalität macht sich in mir breit. Höchste Zeit für eine Inventur!

Welche Möglichkeiten habe ich genutzt?
Ich habe mein Studium abgeschlossen und den Beruf ausgeübt, den ich für mich wollte.
Ich hab den besten Mann der Welt kennen gelernt und für mich gewonnen.
Ich lebe auf einem Bauernhof.
Ich habe drei wunderbaren, gesunden Söhnen das Leben geschenkt.
Ich habe meinen Traum verwirklicht, Pferden ein artgerechtes und schönes Leben zu ermöglichen.
Ich habe drei eigene Pferde, ein Schaf, zwei Hunde, zwei Katzen und Hühner.
Ich werde mit meiner Schwester zusammen leben und arbeiten.

Welche Möglichkeiten habe ich verloren?
Ich bin nicht mehr frei (im Sinne von ungebunden).
Ich sehe nicht mehr so aus, wie vor 20 Jahren.
Ich bin nicht mehr so leistungsfähig wie vor 20 Jahren.
Ich habe keine berufliche Vorzeigekarriere.

Oft habe ich das Gefühl, meine Welt ist kleiner geworden, enger, manchmal zu eng. Wenn ich es objektiv betrachte, ist natürlich das Gegenteil der Fall: Da ist so viel mehr als früher, so viel, das ich mir erarbeitet habe. Woher kommt also das Gefühl der Enge und des Mangels?

Ein gutes Stück meines Lebenswegs liegt bereits hinter mir. Kürzer geworden ist der Teil, der jetzt noch vor mir liegt. Kürzer geworden ist auch die Zeit, die ich nutzen kann, um meinen Lebensweg zu genießen. Dieser Genuss ist bisher zu kurz gekommen, zu sehr war ich mit Schaffen und Tun beschäftigt. Um ehrlich zu sein, kenne ich diesen Genuss überhaupt nicht. Und auch jetzt, wo mir das bewusst wird, überlege ich fieberhaft, was ich TUN muss, um diesen Genuss zu bekommen. Es ist verdammt schwer, die Aufmerksamkeit auf das Sein zu richten, denn ich weiß, ehrlich gesagt, gar nicht, was mich da erwartet. Was bekomme ich zu sehen und zu spüren, wenn ich den Fokus auf mein SEIN richte? Und vor allem: Warum macht mich das so nervös?

Was wird sich zeigen jenseits von Anpassung, Norm und Gewohnheit?

Ist dieses Gefühl des Eingesperrtseins vielleicht nur ein guter Tipp meiner Seele: Nutze die Zeit, die dir bleibt! Passe deinen Kurs an! Überprüfe das Ziel, das du in dein Navi eingegeben hast!

Ich habe mir vorgenommen, in den nächsten Tagen probeweise auf „Autobahnen vermeiden“ zu klicken. Man sollte doch meinen, dass die besinnlichen Feiertage des Fests der Liebe und die Raunächte ein recht günstiger Zeitpunkt dafür sind.